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Mein Optimismus ist auf Erden angesiedelt

Veröffentlicht am 8. Juni 2015 um 15:47 von Claudia Reinhard
Reiner Klingholz

Reiner Klingholz

Reiner Klingholz ist Chemiker und Molekularbiologe. Bei „Ihr aber glaubet“ in Köln ist er als Diskutant auf dem Podium „Warum Wachstumskritik?“ dabei. Als Wissenschaftsredakteur schrieb Klingholz für DIE ZEIT und GEO und war Redaktionsleiter bei GEO WISSEN. Seit 2009 ist er Vorstand des „Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung“. In seinem Buch „Sklaven des Wachstums – die Geschichte einer Befreiung“ beschäftigt Klingholz sich mit globalen demografischen und ökonomischen Entwicklungen und zeigt auf, wie das Ökosystem unseres Planeten durch das ewige Streben nach Wachstum systematisch überlastet wird. Warum das Grund zur Sorge, aber nicht unweigerlich zur Verzweiflung ist, hat er Claudia Reinhard beantwortet.

 

Blog „Ihr aber glaubet“: Jedes Jahr hören wir in Deutschland ähnliche Meldungen: Es werden nicht genug Kinder geboren. 2013 kamen auf eine Frau durchschnittlich 1,4 Nachfahren. Die Bundesregierung ist davon gar nicht begeistert und denkt sich immer mehr Anreize aus, um die Familiengründung für junge Menschen wieder attraktiver zu machen. Sind weniger Kinder tatsächlich ein Grund zur Besorgnis?

Die Frage ist, was heißt weniger? 2,1 Kinder bedeuten eine langfristig stabile Bevölkerung ohne Zuwanderung. Mehr Kinder bedeuten Bevölkerungswachstum, was angesichts einer Welt von 7,2 Milliarden und bald schon 9 Milliarden kein sinnvolles Ziel sein kann. 1,4 Kinder bedeuten, dass jede Nachwuchsgeneration um ein Drittel kleiner ist als die der Eltern. Das führt zu massiven Verwerfungen im Verhältnis zwischen Jung und Alt, zu Problemen für den Generationenvertrag. Ideal wären für uns vermutlich 1,6 bis 1,8 Kinder je Frau. Damit lässt sich mit Zuwanderung eine gewisse gesellschaftliche und wirtschaftliche Stabilität erreichen. Das sollte das Ziel ein.

Die sinkende Fertilitätsrate wird in vielen Ländern mit Zuwanderung zu kompensieren versucht. Wie wichtig ist dieser Aspekt in der aktuellen Flüchtlingsdiskussion in Europa?

Es ist klar, dass Deutschland, wo die Kinderzahlen seit 40 Jahren auf sehr niedrigem Niveau liegen, Zuwanderung braucht. Ohne Zuwanderer würde unsere anspruchsvolle Wirtschaft kollabieren, unser Wohlstand wäre nicht zu halten. Die Zuwanderer kommen derzeit überwiegend aus EU-Ländern, in denen die Wirtschaft nicht gerade brummt. Ein paar wenige kommen auch über eine geregelte Anwerbung von Fachkräften aus so genannten Drittstaaten, also von außerhalb der EU. Flüchtlinge und Asylsuchende sind ein Sonderthema. Sie werden aus humanitären und nicht aus wirtschaftlichen Gründen aufgenommen. Dennoch sollten wir dafür sorgen, dass diese Menschen, auch solange ihr Anerkennungsverfahren noch läuft, möglichst eine Beschäftigung finden. Das ist gut für ihr Selbstverständnis, für ihre finanzielle Lage, für eine weitere Integration – und für unsere Wirtschaft.

Besonders in den hoch entwickelten Ländern wird die Bevölkerung durchschnittlich immer älter. Bei einer kontinuierlich steigenden Lebenserwartung würde es in Japan schon in 40 Jahren genau so viele 100-Jährige wie Einjährige geben. Steht der Welt eine Gerontokratie, eine Herrschaft der Alten, bevor?

Es steht uns mit Sicherheit eine Alterung der Gesellschaften bevor, die noch kein Land je erlebt hat. Wir sammeln also komplett neue Erfahrungen. Das gilt übrigens nicht nur für die hoch entwickelten Länder, sondern auch für die Schwellen- und Entwicklungsländer, die diese Entwicklung zwar später als wir, dafür aber deutlich schneller erleben werden. Ob die Alten die Herrschaft übernehmen, wissen wir nicht. Von den Mehrheitsverhältnissen her wird das sicher geschehen, aber wenn diese Älteren klug sind, dann verhalten sie sich trotz Mehrheit solidarisch mit den Jüngeren. Denn nur wenn die kleiner werdende Schar der Jungen gut gefördert und optimal ausgebildet wird, können sie später die Versorgung der Älteren finanzieren.

Ein Kapitel Ihres Buches heißt „Es lebt sich gut im Overshoot“. Was bedeutet das genau?

Wenn man vom Kapital lebt, kann man zunächst gut leben. Man kann etwa den Wald absägen, das Holz verkaufen oder verheizen und die große Sause feiern. Das ist das Leben im Overshoot. Aber wenn der letzte Baum gefällt ist, dauert es hundert Jahre, bis ein neuer Wald gewachsen ist. Das mit dem Wald haben wir in Deutschland gelernt, denn wir sind in der Forstwirtschaft nach dem Gesetz zur Nachhaltigkeit verpflichtet. Aber auf globaler Ebene geschieht das nicht. Nicht nachhaltig verfahren wir mit den Fischen im Ozean, mit dem Ackerland, mit den Grundwasserreserven, mit der Atmosphäre. Wer zu lange und in vielen Bereichen im Overshoot lebt, wer seine Reserven, sein natürliches Kapital plündert, lebt nur für kurze Zeit gut. Denn der Ast an dem er sägt, bricht irgendwann ab.

In Ihrem Buch beschreiben sie den sogenannten „Marshmallow-Test“ des Psychologen Walter Mischel. In diesem Versuch wurden Kinder mit einem Marshmallow vor sich auf dem Tisch allein gelassen und konnten dann entscheiden, ob sie die Süßigkeit sofort essen, oder stattdessen abwarten und später die doppelte Menge bekommen wollten. Ein Großteil der Kinder ließ sich auf den schnellen Genuss ein. Kann man aus dieser Verhaltensforschung Schlussfolgerungen zu den zaghaften Reformen im Umweltschutz und bei gesellschaftlichen Umwälzungen ziehen, oder ist das doch zu einfach gedacht? 

Die meisten Kinder nehmen den kurzfristigen Gewinn mit und essen das Marshmallow sofort auf. Kinder können noch nicht immer die Zukunft einschätzen. Das Interessante ist, dass Erwachsene im Grunde genauso handeln, obwohl sie oft viel bessere Informationen über die Zukunft haben. Wir wissen genau, dass sich das Klima wandelt, wenn wir dort weiter große Mengen an Treibhausgasen abladen. Aber wir ändern praktisch nichts an unserem Verhalten. Wir können uns persönlich einschränken, aber wir können nicht als Einzelne das Klima retten. Dazu brauchen wir internationale, politische Regeln. Dummerweise reagiert auch die internationale Politik wie in dem Marshmallow-Test: Kurzfristige Gewinne sind wichtiger als langfristige Nachhaltigkeit.

Lässt sich unser westliches Wohlstandsniveau auch mit sinkendem Wachstum halten, oder ist es an der Zeit, diesen Begriff neu zu definieren? Sollten wir lernen, mit weniger auszukommen?

Solange wir unter Wohlstand ständig wachsenden Wohlstand verstehen, sicher nicht. Wir beobachten in allen Industrienationen über die vergangenen Jahrzehnte sinkende Wirtschaftswachstumsraten. Langsam kommen wir damit an Grenzen, denn unsere staatlichen Systeme, unsere Finanzmärkte unsere Schuldenpolitik benötigen Wachstum. Das klappt aber nicht so, wie wir es aus der Vergangenheit kennen – weil es in den reichen Ländern Sättigungseffekte gibt, weil die Bevölkerung altert, weil sie mit dem Schrumpfen beginnt. Bisher haben die Regierungen nicht erkannt, dass wir ein neues Gesellschaftsmodell brauchen, für ein Wohlergehen der Menschen mit wenig oder gar keinem Wachstum. Stattdessen versuchen sie Wachstum zu erzwingen, mit schuldenfinanzierten Abwrackprämien und Konjunkturprogrammen, mit einer enormen Erhöhung der Geldmenge. Das bedeutet eine große Belastung für künftige Generationen. Denn sie finden einen wachsenden Schuldenberg vor, aber angesichts der sinkenden Wachstumsraten keine Möglichkeit mehr, ihn abzutragen.

Die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth bemängelt, dass Politiker kritische Wahrheiten zu realen Lebensverhältnisse und Zukunftsanforderungen nicht offen ansprechen, weil sie teilweise unzumutbar scheinen. Teilen Sie ihre Befürchtung?

Ja. Viele Politiker glauben, nur sie vertrügen die Wahrheit und das Publikum müsse mit „Alles-wird-gut-Rhetorik“ ruhiggestellt werden. Aber nur wenn das ganze Volk die Wahrheit über die Folgen unseres Handelns erfährt und begreift, kann es selbst entscheiden.

Inwiefern muss sich im Postwachstum auch das Verständnis von Demokratie ändern?

Im Postwachstum wird die Bevölkerung älter sein als heute. Sie braucht dann eine andere Vorstellung von Generationengerechtigkeit. Sie muss sich, auch wenn Ältere die Mehrheit stellen, für die Jungen stark machen. Denn nur sie können das Geld erwirtschaften, das für die Versorgung einer alternden Gesellschaft nötig ist. Postwachstum bedeutet auch, dass es weniger zu verteilen gibt. Das erfordert eine neue Solidarität zwischen jung und alt und zwischen reich und arm – eine andere Vorstellung von Umverteilung.

Welche Rolle kann die Religion bei den globalen Entscheidungen spielen, die in naher Zukunft getroffen werden müssen, um das Ökosystem zu bewahren und ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen?

Religion kann leichter die Wahrheit aussprechen als die Politik. Religionsvertreter müssen nicht alle paar Jahre wiedergewählt werden. Zudem treffen sich unter dem Dach der Religionen Menschen, die prinzipiell zur Solidarität in der Lage und zur Verantwortung bereit sind.

Trotz aller beschriebenen Probleme und Herausforderungen beginnen Sie „Sklaven des Wachstums“ mit einer Utopie im Jahr 2297, in der sich alles doch noch mal zum Guten gewendet hat. Dürfen wir tatsächlich optimistisch sein was die Zukunft der Menschheit betrifft, oder sollten wir uns schleunigst nach neuen Planeten umschauen?

Wir kennen keinen neuen Planeten auf dem wir leben könnten. Und wenn wir einen finden würden, wäre er so weit weg, dass wir ihn gar nicht erreichen könnten. Mein Optimismus ist auf Erden angesiedelt, er trifft aber nur für die ferne und nicht für die nahe Zukunft zu und zwar aus folgender Überlegung: Es geht den Menschen in den allermeisten Ländern der Welt heute besser als noch vor einigen Jahrzehnten. Das lässt sich allein an der steigenden Lebenserwartung ablesen. Durch wachsenden Wohlstand, durch bessere Bildung und mehr Gleichstellung von Frauen und Männern sinken überall die Kinderzahlen. In über 80 Ländern liegen die Kinderzahlen schon unter jenem Wert, bei dem eine Bevölkerung langfristig wachsen würde. Mit einer weiteren Entwicklung der heute noch ärmeren Länder würde also das globale Bevölkerungswachstum ein Ende finden. In der Folge sänke auch das Wirtschaftswachstum gegen oder unter Null – und damit die ökologischen Schäden, die zwangsläufig durch den Umschlag von mehr Waren und Rohstoffen entstehen. Die Entwicklung zu einem besseren Leben für immer mehr Menschen führt uns also – nebenbei und ungeplant – auf den Weg der Nachhaltigkeit. Wenn alles gut geht, wären wir im Jahr 2300 vielleicht noch drei Milliarden Menschen, weniger als halb so viele wie heute. Diese Menschen wären im Schnitt älter und schon deshalb friedlicher. Sie wären besser gebildet und besser in der Lage mit jener massiven Umweltveränderungen zu leben, die wir heute verursachen. Das wäre das Paradies der Nachhaltigkeit, das wir allerdings nicht durch Weisheit und Verantwortung erreichen, sondern als zwangsläufige Folge unserer sozioökonomischen Entwicklung.

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